Den grössten Lerneffekt haben wir bei einem Crash

Gestengesteuerte tellergrosse Hubschrauber – genannt Quadrocopter spielen Tennis, balancieren einen Stab oder betreiben Sportgymnastik. Bei einem der Flugmanöver überschlägt sich der Flugroboter Charly und stürzt ab. „Klasse, das müssen wir uns anschauen“, kommentiert begeisterter der Pilot (http://vimeo.com/33713231).

Wer denkt da nicht sehnsüchtig an seine Jugendzeit zurück und durch die Mondlandung motivierte gewagte Spielereien in Hinterhöfen mit irgendwelchen selbstgebauten Raketenflugzeugen oder anderen Flugmodellen.

Doch der Schauplatz vom obigen Absturz ist nicht irgendein Hinterhof, sondern ein Labor an der ETH Zürich und der Pilot D’Andrea ist Professor an der ETH. „Den grössten Lerneffekt haben wir immer bei einem Crash“, erläutert D’Andrea zufrieden. Gelesen habe ich den Artikel unter Wissenschaft und Technik im aktuellen Spiegel 2/2012, beschrieben wird ein EU-Projekt was die Zukunft fliegender Autos erforscht. Zur Steuerung der Roboter werden Interfaces aus der Game-Industrie verwendet. Der Sensor einer herkömmlichen Spielkonsole steht auf dem Boden und beobachtet den Piloten. Ein Computer setzt die Gesten in Steuerbefehle um und sendet diese per WLAN an den Quadrocopter. Lernt hier die Wissenschaft von der Game-Industrie?

Neu ist das nicht – sogenannte Serious Games (englisch für ernsthafte Spiele) haben sich schon früh im Bereich der Flugsimulationen entwickelt. Auch unsere Mondlandespielereien in den 60er waren erste Versuche einer Simulation. Eine Holzkiste im Garten simulierte die Apollokapsel, die Küche mit der Mutter die Bodenstation, Funkverkehr über Gegensprechanlage entsprechend dem Vorbild NASA nur in Englisch. Selbsterfundenes und durch eine authentische Umgebung eingefärbtes Lernspiel – alles intrinsisch motiviert mit einer hohen Frustrationstoleranz (Wir waren nie auf dem Mond – oder doch?). Eine Chance für das Lernen?

Ernsthaftes Spiele – Serious Games – haben das Anliegen Information und Bildung zu vermitteln; dies sollte in einem möglichst ausgeglichenen Verhältnis zu Unterhaltungsaspekten geschehen. Ein authentisches und glaubwürdiges, aber auch unterhaltendes Lernerlebnis steht im Mittelpunkt des Interesses. Der Kinderarzt Remo Largo fordert mehr Erfahrungslernen im Unterricht (Schülerjahre: Wie Kinder besser lernen 2010). Im Gegensatz zur reinen Wissensvermittlung und Schulung (Begriffslernen) nutzt Erfahrungslernen mehrere Kanäle und genau das bieten u.a. auch Serious Games. Die Frage muss lauten „Was können wir von Computerspielen lernen?“ Erfahrungslernen, welches sich möglichst unmittelbar mit seinen Gegenständen beschäftigt, nutze viele Eingangskanäle zwischen Subjekt und Objektwelt (Bsp. Jugendlicher und Spiel). Visuelle, akustische, haptische Eindrücke, motorische Betätigungen sowie Empfindungen werden mit rationalen Operationen gekoppelt. Mehrkanallernen löst erheblich mehr Assoziationsmuster in den verschiedenen Hirnregionen aus als eindimensionale Informationsvermittlung. Motivation durch eine gute Spielidee führt zur Aufnahme von Eindrücken und zu produktivem Umgang mit dem Gelernten.

In seinem Buch ‚WHAT GAMES HAVE TO TEACH US ABOUT LEARNING LITERACY’ untersucht James Paul Gee das Lernen beim Spielen von Computergames und entwickelte 2003 die 36 Lernprinzipien http://mason.gmu.edu/~lsmithg/jamespaulgee2. Beim Computerspiele-Spielen lernt man laut Gee eine neue Art von literacy (Lese- und Schreibfähigkeit, Bildung) kennen. Beispielsweise gibt es multimodal texts (Texte die vermischt sind mit Bild und Wort) bei denen die Bilder andere Inhalte kommunizieren als die buchstäbliche Sprache (erweiterter Textbegriff). Weiter kann die Kombination von Bild und Wort Inhalte kommunizieren, die je eine Art separat nicht kann. Selbstverständlich geht multimodality (bedeutet in etwa mehrere Kommunikationskanäle) noch weiter, kombiniert Geräusche, Musik, Bewegung und Empfinden (Mehrkanallernen). Computerspiele sind damit multimodal literacy schlechthin. Die Bedeutung der multimodal literacy durch Computerspiele wird auch von Dominik Petko beschrieben: „Im Sinne von Simulationen mehr oder weniger realitätsnaher Zusammenhänge kombinieren digitale Spiele Informationen in vielfältiger Modalität (d. h. sie sprechen verschiedene Sinneskanäle an) und Codalität (d. h. sie verwenden dabei unterschiedliche Symbolsysteme.) Die Wirksamkeit solch reichhaltiger Präsentationen für das Erlernen komplexer Zusammenhänge kann als erwiesen gelten, wenn sie die Lernenden mit ihrer Fülle nicht überfordern und Elemente optimal kombinieren“ (http://www.medienpaed.com/zs/content/blogcategory/39/67/).

Jedes Kommunikationssystem hat in einem anderen gesellschaftlichen Kontext eine andere Bedeutung. So kann beispielsweise ein Text je nach Situation, Kontext, Kultur oder historischer Periode auf ganz unterschiedliche Arten aufgefasst werden/worden sein. Den jeweiligen Kontext nennt Gee semiotic domains: „An area or set of activities where people think, act, and value in certain ways.” Möchte man ein Fachgebiet/eine Szene/eine Disziplin verstehen, muss zuerst verstanden werden, auf welche Weise in dem jeweiligen Bereich den verschiedenen Dingen (Wörter, Bilder, Graphiken etc.) Bedeutung/Inhalt zugesprochen wird. Eine solche Disziplin/semiotic domain ist selbstverständlich auch der Bereich der Serious Games.

Gee folgert daraus, dass in der modernen Welt gedruckte Medien nicht genug seien. Es würde Bildung in einer grossen Variation von verschiedenen semiotic domains benötigen. Mehr noch müsse man lernen offen zu sein, um das ganze Leben hindurch immer wieder neue semiotic domains zu lernen. Denn die moderne, globale, Hightechwelt ändere sich sehr rasch und erschaffe damit immer neue semiotic domains und transformiere alte in neue.

Auch andere Autoren verweisen hinsichtlich ihrer Auseinandersetzungen mit Computerspielen auf eine erweiterte Auffassung vom Begriff Bildung. Fromme, Jörissen und Unger (http://www.medienpaed.com/15/fromme0812.pdf ) verweisen hinsichtlich des Lernens durch Computerspiele auf nicht intendierte und unbewusste Lernprozesse (Intuitive Knowledge Principle), oder die simultativen Potentiale von Computerspielen, die einen Nutzen für die ‚reale’ Welt ermöglichen (Subset-, Distributed- und Dispersed Principle). Petko schreibt, dass durch die Inputs der Spielenden und die darauffolgenden Reaktionen des Computers eine Interaktion zwischen den Problemlösungsversuchen der Spielenden und dem Feedback des Computers entstehe. Diese Interaktionen könnten (im Idealfall) zu einem Problemlösezirkel führen, der vom Bemerken und Analysieren einer Schwierigkeit, über das Entwickeln und Abwägen von Lösungsvarianten zu einem Einsatz und einer Evaluation des Resultats führt, bevor er gegebenenfalls von neuem beginnt (Probing Principle). Eben: „Den grössten Lerneffekt haben wir immer bei einem Crash“ (http://www.youtube.com/watch?v=LZU2tk8UdgM).

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