Lehren in Videos – Beobachtungen

Mit Blick auf das Webinar am 16. Juni 2016 erläutert Jeanine Reutemann vom Institut Ästhetische Praxis und Theorie der HGK Basel FHNW hier erste Details zu ihren Forschungen. Die Fachstelle Digitales Lehren und Lernen in der Hochschule berät Hochschullehrende beim Einsatz von Videos in der Lehre in vielfältiger Weise und versucht bspw. die Erkenntnisse dieser Forschungen in ihre Beratungen und Weiterbildungen zu integrieren.

„Simulierter Blickkontakt“ – Wie digitales Lehren in Videos die Wissensvermittlung verändert

Das Vermitteln von Wissen in Videos gestaltet sich anders und ist nicht gleich, wie wenn der Lehrende in einem Vorlesungssaal oder einem Seminarraum sitzt. Der Lernende ist nicht sichtbar; es gibt keine direkte, d.h. face-to-face Kommunikation und Interaktion wie in Präsenz zwischen den anwesenden Lehrenden und Lernenden. Vielmehr wird bspw. der Bewegungsraum durch die Einstellungsgrösse des Kamerabildes für den Lehrenden eingeschränkt. Auch bereits der Blick in die Kameralinse kann die Art und Weise wie Lehrende Wissen vermitteln in einem entscheidenden Masse verändern.Um diese Differenz aufzuzeigen, sind in einer Studie 448 Lektions-Videos aus MOOCs (Massive Open Online Courses) untersucht worden (vgl. Reutemann 2016).

Ein Drittel der Videos benutzen den Videostil „Talking Head“ als Wissensvermittlungs-Format. Der Talking Head beschreibt eine/n sichtbare/n Sprecher/-in, welche/r zwischen einer Halbnahen (der Hüfte) oder Nahen (der Schulter) Einstellung zu sehen ist. Das Ergebnis zeigt klar, dass die Videos des „Talking Heads“ ein klassisches Format des Frontalunterrichts also der Vortragsmethode (‚recitation method’) – die vortragende Person steht im Zentrum der Wissensvermittlung. Die „allwissenden“ Lehrenden stehen in diesem Format jedoch noch stärker im Fokus der Aufmerksamkeit, als sie dies bereits im Seminarraum sind: Denn die Lehrenden werden durch die Bildrahmung in einer „Nahen Einstellung“ oder „Halbnahen Einstellung“ zentral ins Bild gesetzt, vielfach bedeckt der Körper der Lehrperson 1/3 bis 1/2 des gesamten Bildes. Je nach Endgerät (Laptop, Beamer) erscheint die/der Sprecher/-in damit in einer ungewohnten Nähe. Mit der hohen Auflösung der Bilder werden sogar im Kleinstformat, mit dem Handy, mehr Details im Gesicht der vortragenden Person erkennbar, als man in einer „analogen Lehrveranstaltung“ mitbekommen würde. In Seminarräumen überschreitet eine Lehrperson selten die sogenannte soziale Distanz zum Lernenden (vgl. hierzu: interpersonelle Distanz), in welcher detaillierte Details der Mimik, wie bspw. Zuckungen von Augenbrauen oder Blickveränderung erkennbar werden. Aber genau dies ist der Normalfall in Bildungsvideos mit einem Talking Head, dies wird sich zukünftig verstärken, denn die Verwendung von 4K Kameras für Bildungsfilme ist bereits an Hochschulen angekommen (4K hat eine mehr als doppelt so hohe Auflösung wie HD).

Das Problem einer exakt erkennbaren Mimik des Lehrenden

Das Lesen von Expressionen in der Mimik und Mikromimik einer/eines Sprecher/-in ist eine wichtige Eigenschaft in der multimodalen Sprachinteraktion mit Menschen. Diese angeborene Fähigkeit dient uns vor allem in sozial anspruchsvollen Situationen als Orientierungshilfe und wichtige Information, wenn wir z.B. herausfinden möchten, ob jemand die Wahrheit sagt oder ob seine Aussage eine Zweideutigkeit, eine Ambiguität enthält oder wie sich die Person fühlt.

Das Erkennen von Widersprüchlichkeiten, Kontroversen oder Unklarheiten zwischen dem, was wir sehen und dem, was wir hören, ist jedoch in einer Situation der Wissensvermittlung, der Lehre nicht unbedingt notwendig, sondern kann durchaus hinderlich sein für den Lernprozess. Denn eine solche Information zeigt uns, dass der/die Lehrende eventuell Schwierigkeiten mit der Vermittlung des  Themas hat, eine Unsicherheit mit sich trägt oder den Zuhörenden bewusst eine Falschaussage übermittelt (letzter Punkt kommt hoffentlich nicht vor). Gleichzeitig ist diese un-familiäre Nahansicht im Talking Head Format nicht nur bei Mehrdeutigkeit von Gesehenem und Gehörtem eine grosse Herausforderung, denn die genaue Sicht auf das Gesicht kann den Lernenden auch ohne Sprach-Ambiguität vom Lerninhalt ablenken. Der Gestenforscher Sotaro Kita, Professor für Psychologie an der Universität Warwick UK, sichtete in einem Experteninterview mit der Autorin einige Talking Head Beispiele: „ I wasn’t sure that I wanted to see all the facial expressions. In some ways, that was a bit distracting from the content“ (Kita im Experteninterview 2015).

Virtueller Blick in die Kamera

Eine der Grundsatzdiskussionen der videographischen Wissensvermittlung in MOOCs bezieht sich auf die Frage, wie eine Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden trotz medialer Distanz intensiviert werden kann. Es wird vermutet (es existieren kaum differenzierte Studien dazu), dass die Lernenden durch einen gegenseitigen Blickkontakt eine Beziehung zum Lehrenden aufbauen. Diese Blick-Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden wird in Präsenzsettings beispielsweise als eine Form der gegenseitigen Bestätigung, Bejahung und Verständnisüberprüfung verwendet. Diese notwendige Interaktion entfällt bei Bildungsvideos vollkommen (Ausnahme: bei synchron „streaming“-Varianten wie Webinaren mit mehreren Kameras oder Skype-Sessions). Die Annahme im Diskurs über Bildungsvideos besteht nun darin, dass dieses Gefühl des gegenseitigen Blickkontaktes zwischen Lehrenden und Lernenden, durch einen „simulierten“ Blick des Lehrenden in die Kameralinse, ersetzt werden könne. Als problematisch können jedoch subtile Verhaltensänderungen bei diesem simulierten Blick benannt werden, welche im nächsten Abschnitt beschrieben werden.

Prompter und der „Nervöse Staräffchen-Blick“

In den letzten drei Jahren kauften viele Hochschulen neues Studio Equipment für eine Lehrvermittlung mit Videos, und im Zuge dessen einen Prompter. Der Prompter ist in der Broadcast-Welt ein weitverbreitetes, technisches Gadget und wird als Sprechhilfe für Moderator/-innen eingesetzt indem diese den Moderationstext von einem Screen „ablesen“ können – hierbei blicken sie beim Sprechen direkt in die Kamera und der/die Zuschauer/-in glaubt (mehr oder weniger), er/sie spreche direkt mit ihm.
Die Idee, einen Prompter für die Lehrvermittlung einzusetzen, scheint darum offensichtlich. Was dabei jedoch ignoriert wird, zieht fatale Folgen mit sich: Moderator/-innen trainieren sich jahrelang im Rezipieren der Prompter-Texte, sodass diese nicht vorgelesen klingen, sondern in einer „natürlichen“ Sprachvermittlung wiedergegeben werden können. Gerade das Beherrschen solcher soft-skills sind in einer videographischen Wissensvermittlung mit Prompter ein ausschlaggebendes, didaktisch-dramaturgisches Element für den Beziehungsaufbau mit Lernenden: Wird der Text auf dem Prompter abgelesen so verliert dadurch die Sprachvermittlung ihre natürliche Intonation, Geschwindigkeit und Nachdruck der Inhalte. Ebenso verliert die Message einen relevanten Aspekt einer Wissensvermittlung. Hinzu kommt, dass durch ein unkontrolliertes Ablesen die Pupillen des/der Sprecher/-in nicht geradeaus mit einer überzeugten Festigkeit den Lernenden „virtuell-digital“ anschauen, sondern dass die Pupillen wie wild hin und her wandern. Grund dafür ist, dass die Zeilenlänge der eingeblendeten Texte zu lange ist, so dass die Pupillen insbesondere bei unvorbereitetem Vorlesen den Text Wort für Wort abtasten müssen. Damit wird kein „simulierter“ Blickkontakt nachgeahmt, sondern man sieht aus Sicht des Lernenden eine nervöse Lehrperson, dessen Augen (und manchmal auch Kopf) wie verrückt zwischen dem linken und rechten Bildrand hin- und her wackeln. Dieser, um es etwas provokativ zu benennen, „nervöse Staräffchen-Blick“ tritt bei beinahe allen, ungeübten Prompter-Sprecher/-innen auf. „Whether or not somebody is reading from a prompter you can tell from the eyes and face but also if somebody is not really thinking and saying, I think it also shows up in gestural communication as well. If you are just reading, you’re not going to gesture“ (Kita im Experteninterview 2015). Und hier folgt damit ein weiteres Problem, denn die Gesten sind relevant bei der Wissenskommunikation – vorausgesetzt die vortragende Person weiss, wovon er/sie spricht.

Gesten als sichtbare Denkprozesse

Denn gerade die redebegleitenden Gesten erzeugen in ihrer Darstellung zusätzliche Aspekte der Sprache, die sie ergänzen, erweitern oder sogar ersetzen können und sind wie ein „offenes Fenster“ in die Gedankenwelt der Person. Gesten besitzen einzigartige semiotische Eigenschaften mit einem Bedeutungsgehalt, welcher erst in einer gemeinsamen Expression von dem Gesagten mit der Geste gänzlich zum Vorschein kommen kann. Sie sind damit ein äusserst wichtiger Part in der Wissensvermittlung. Hier passiert nun jedoch ein weiteres Problem bei einer Darstellung im Talking Head Format: Wenn ein Talking Head in einer Halbnahen oder vor allem in einer Nahen Einstellung aufgezeichnet wird, sind seine Gesten zumeist nur angeschnitten oder überhaupt nicht sichtbar. Hier verliert der Lernende somit wichtige, visuelle Informationen zum Verständnis des Themas – wohingegen er die nicht sonderlich relevante Mimik und Mikromimik des Lehrenden wahrnimmt.

An diesem Punkt muss man sich zweifelsohne fragen: Ist ein solches Talking Head Videoformat wirklich für eine adäquate Wissensvermittlung geeignet oder müsste man dieses nicht vollkommen neu denken? Im Video-Medium steckt grosses Potenzial: Man sollte vielleicht besser, als die klassische Seminarsituation zu kopieren, die Bildungsvideos dahin entwickeln, dass sie den ästhetisch-didaktischen-narrativen Eigenschaften des Mediums entsprechend produziert werden.

Literatur:

Reutemann, Jeanine (2016): „Differences and Commonalities – A comparative report of video styles and course descriptions on edX, Coursera, Futurelearn and Iversity“, In: Proceedings of the EUROPEAN STAKEHOLDER SUMMIT on experiencies and best practices in and around MOOCs (EMOOCS 2016), eds. Khalil M., Ebner M., Kopp M., Lorenz A., Kalz M. Graz. 383-392. Online

Experteninterview von der Autorin mit Prof. Dr. Sotaro Kita, Nantes 2015.

Bildnachweis: 

Videostill aus „Video Styles in MOOCs – A journey into the world of digital education“

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